…morgens gegen 8 Uhr breche ich in Bad Tölz auf. Anton, mein Jagdhund, hechelt voller Vorfreude und wendet keinen Blick mehr von mir. Rucksack, Wanderschuhe, Stöcke und Leckerlies sind im Kofferraum verstaut – jetzt kann es losgehen. Ziel: Das Rißtal, mit seinen schönsten und zweifellos atemberaubendsten Wanderwegen zwischen Oberbayern und Österreich.
Meine Fahrt führt mich zunächst über Lenggries und nach dreißig Minuten erreiche ich die im äußersten Isarwinkel gelegene, kleine Ortschaft Vorderriß. Sie befindet sich zwar noch innerhalb der deutschen Landesgrenze, gehört aber schon zu Tirol. Spätestens jetzt fühlt man sich in eine andere Welt versetzt und ich kenne niemanden, der sich dem Anblick dieser einzigartigen Landschaft emotionslos entziehen könnte. Nicht einmal meinem Hund Anton gelingt es, denn der wittert nicht nur Morgenluft. Nur wenige Kilometer hinter der Isarsiedlung legen Anton und ich unseren ersten Stopp ein.
Die Oswaldhütte, ein wenig unterhalb der Straße gelegen. Ich habe mir vorgenommen, mich hier nicht nur mental, sondern auch magentechnisch mit einer deftigen Brotzeit auf den Tag vorzubereiten. Das urig-bayerische Bauernhaus mit einer großen, gemütlichen Terrasse lädt nicht nur deshalb zum Verweilen ein, weil die freundlichen Wirtsleute wissen, wie man die Gäste bei Laune hält. Auch die moderaten Preisen tragen dazu bei, die Umgebung angesichts der schmackhaften Verführungen noch genussvoller zu erleben, als sie es ohnehin schon sind.
Eine halbe Stunde später sind wir bereit für Abenteuer, Naturspektakel und Wandergenuss. Ich passiere mit dem Auto den kleinen Weiler Hinterriß und stelle es knapp vier Kilometer später dem Parkplatz ab. Anton weiß, was die Stunde geschlagen hat und rast in vorauseilender Lebenslust zur rustikalen Holzbrücke, auf der wir das Kiesbett und den türkisblauen Rißbach überqueren. Gurgelnd und brodelnd rauscht das Wasser Richtung Tal. Direkt vor uns ragt der Karwendel mit seiner ungeheuren Präsenz, seinen schroffen Steilwänden und zerklüfteten Zinnen in den Himmel. Links und rechts Wiesen mit Butterblumen, hohen Gräsern, und der Geruch von frischem Moos. Ob Dackel, Pinscher, Schäferhund, Bullterrier oder Bernhardiner, hier können die Vierbeiner toben, schnüffeln, stöbern und im Wasser planschen, ohne von Obrigkeiten zur Ordnung gerufen zu werden.
Der leicht ansteigende Weg führt uns zunächst durch saftig-grüne Auen in Richtung Wald. Mir scheint, als sei ich im Land der Feen, Kobolde, Elfen und geheimnisvollen Wurzelgeister angekommen. Weiter geht es in Richtung Kaiserhütte, dorthin, wo der wilde Bergbach vom Ahornboden kommend, sich im Wald versteckt, sich über Jahrtausende durch die Kalkfelsen gefressen und eine spektakuläre Klamm gebildet hat. Der Zugang zur Felsenenge ist nicht erschlossen, es gibt auch keine typischen Wanderwege oder gar Wegweiser, die zu diesem Naturschauspiel führen. Wohl aber einen Trampelpfad. Links und rechts leuchtet das Gelb der Trollblumen mit dem Blau des Enzians um die Wette. Das laute Rauschen ist allerdings unüberhörbar.
Entlang des kochenden Gewässers, das sich inmitten eines Zauberwaldes durch Schluchten und Felsdurchbrüchen in eindrucksvollen Kaskaden gen Tal stürzt, treffen wir immer wieder auf kleine, grüne Wiesenoasen und Einbuchtungen, die man über schmale Pfade erreicht und die ans Ufer führen. Hier kann man weltvergessen verweilen, bei der selbst die abgeklärteste Seele zu träumen beginnt. Selbst auf meinen Jagdhund Anton scheint die mystische Umgebung mit dem knackenden Unterholz und bemoosten Baumstümpfen, das türkisfarbene, tobende Element magische Anziehungskräfte auszuüben. Fast möchte man annehmen, dass uns die Waldgeister hinter Tannen und Eichen mit einem Lächeln beobachten.
Europas einziger, naturbelassener Wildfluss, der sich ein paar Kilometer weiter mit der Isar vereinigt, fasziniert nicht nur mit einer imposanten Kulisse, sondern auch deshalb, weil sie uns scheinbar mental und physisch zu unseren Ursprüngen zurückbegleitet. Wir raffen uns wieder auf, denn wir haben noch etwas vor.
Unsere nächste Station ist der große Ahornboden, eine saftig-grüne Hochebene, an dessen Ende mehr als 2000 Ahornbäume wachsen und uns nach etwa zehn Minuten Autofahrt in eine unwirkliche Feenwelt führen. Über eine schmale Mautstraße geht es direkt in den Naturpark des Karwendels, der uns auf dem Weg mit seinen senkrecht abfallenden Felsenstürzen begleitet und uns mit jedem Kilometer kleiner, unbedeutender und auch bescheidener erscheinen lässt.
Angesichts der majestätischen Berge mit den angrenzenden Almwiesen erwartet man, dass jeden Augenblick Heinzelmännchen, Kobolde oder Wichtel hinter den Baumstämmen hervorlugen. Stattdessen schweben Greifvögel mit weit ausgebreiteten Schwingen lautlos über unsere Köpfe hinweg, während zwischen den Ahornbäumen die Kühe friedlich grasen. Ein Bild für Götter. Die wenig befahrene Straße endet nach acht Kilometer in Eng am Alpengasthof. Ab jetzt geht es nur noch zu Fuß weiter. Ich trinke einen Espresso auf der Terrasse und breche danach mit Anton wieder auf.
Ein angenehmer Wanderweg windet sich dem Fels entgegen und führt uns zu den Engalmen. Es ist eine Ansammlung von etwa einem Dutzend archaischer Bauernhäuser, die sich auf der Anhöhe zusammenducken, als wollten sie den Karwendel nicht erzürnen. Die Holzhütten auf 1300 Meter sind bewohnt und werden nach wie vor von den Bauern bewirtschaftet. Ich beschließe, auf dem Rückweg mich in einem der Bauernläden mit würzigem Bergkäse und deftigem Schinkenspeck zu versorgen.
Doch bevor es soweit ist, machen Anton und ich uns auf den Weg hinauf zur Falkenhütte. Der Anstieg zur Hochalm setzt eine gewisse Kondition voraus. Man benötigt etwa zweieinhalb Stunden bis zum Hohljoch auf 1800 Meter Meereshöhe. Man wird mit einem grandiosen Blick über die Laliderwände belohnt und wenn man Glück hat, kann man auf den Felssimsen jede Menge Gemsen beobachten. Es ist ein Panorama, das zu den schönsten Landschaftsbildern gehört, die unsere Alpen zu bieten haben. Wer es ruhiger und etwas weniger anstrengend angehen will, der wählt den Weg über das Johannistal.